Es gibt diese Momente, in denen die Realität so verstörend ist, dass man zweimal hinschauen muss, um zu begreifen, was man da eigentlich liest.
Der Fall eines Lehrers in Thailand, der über zwanzig Jahre lang — zwanzig Jahre! — Schüler missbraucht haben soll, ist so ein Moment. Aber noch verstörender ist die Frage, die sich wie ein giftiger Nebel über die gesamte Geschichte legt: Wie zum Teufel war das möglich?
Die Antwort ist so simpel wie erschreckend: Durch ein System des Schweigens. Ein System, das nicht etwa zufällig entstanden ist, sondern das systematisch kultiviert wurde. Ein System, das Täter schützt und Opfer verstummen lässt.
Wenn wir von zwanzig Jahren sprechen, reden wir nicht von einzelnen “Vorfällen”. Wir reden von etwa 7.300 Tagen, an denen dieser Lehrer durch die Schulkorridore lief. 7.300 Tage, an denen er sein Unwesen treiben konnte. 7.300 Tage des Versagens von Kontrollmechanismen.
Man könnte jetzt argumentieren, dass das in Thailand passiert ist, weit weg von unserem durchregulierten deutschen Bildungssystem. Aber das wäre eine gefährliche Selbsttäuschung.
Die Mechanismen, die solche langanhaltenden Missbrauchsfälle ermöglichen, sind erschreckend universal:
1. Die Autorität des Täters
2. Die Scham der Opfer
3. Die Angst der Mitwissenden
4. Die Trägheit der Institution
5. Das Wegschauen der Gesellschaft
Besonders perfide: Der Status als ausländische Lehrkraft hat dem Täter vermutlich sogar zusätzlichen Schutz geboten. In vielen Ländern Asiens werden westliche Lehrkräfte oft mit einem Vertrauensvorschuss bedacht, der in diesem Fall als Tarnkappe für Verbrechen missbraucht wurde.
Was wir hier sehen, ist das Versagen eines ganzen Systems — aber auch dessen perfides Funktionieren. Denn das System des Schweigens funktioniert ja genau so, wie es soll: Es schützt die Falschen und verstummt die Richtigen.
Die sozialen Medien, die jetzt von Empörung überkochen, sind dabei ein zweischneidiges Schwert. Einerseits haben sie den Fall ans Licht gebracht und bieten den Betroffenen eine Plattform. Andererseits besteht die Gefahr, dass die kurzlebige Online-Empörung als Ersatz für echte Veränderung herhalten muss.
Was wir brauchen, ist keine X oder Facebook-Revolution, sondern eine systemische Revolution. Wir brauchen:
- Unabhängige Kontrollinstanzen an Schulen
- Niedrigschwellige Meldesysteme für Betroffene
- Regelmäßige psychologische Schulungen für Lehrkräfte — Internationale Vernetzung von Schulbehörden
- Systematische Aufarbeitung von Missbrauchsfällen
Der Fall in Thailand ist dabei nur die Spitze eines Eisbergs, der tief in die kalten Gewässer institutioneller Vertuschung reicht. Die mutigen Zeugenaussagen der ehemaligen Schüler sind nicht nur ein Akt der persönlichen Befreiung, sondern auch ein Weckruf an uns alle.
Das System des Schweigens zu brechen, bedeutet mehr, als nur einzelne Täter zu entlarven. Es bedeutet, die Strukturen zu zerschlagen, die solche Taten erst möglich machen. Und das beginnt damit, dass wir aufhören wegzuschauen und anfangen, unbequeme Fragen zu stellen.
Denn eines ist klar: Zwanzig Jahre sind keine Zufallszahl. Sie sind das Ergebnis eines Systems, das wir alle mittragen, solange wir schweigen.