Proteste vor Gericht: Thailands Kampf um Meinungsfreiheit
Von Kilian Borchert
Bangkok — Es ist ein Fall, der Thailand in Atem hält: Atchariya Ruangrattanapong, selbsternannter Anwalt der Kriminalitätsopfer und Vorsitzender des „Crime Victims Assistance Club“, muss für zwei Monate ins Gefängnis! Der Grund? Contempt of Judicial Power — also Missachtung der Justiz. Doch was steckt wirklich hinter diesem spektakulären Urteil?
Das Vergehen: Ein heimliches Handy-Video
Am 25. Februar verurteilte das Strafgericht in Bangkok Atchariya zu zwei Monaten Haft. Sein Verbrechen: Er hatte den Medien eine Zusammenfassung eines Gerichtsurteils zugespielt, das in einer Verleumdungsklage gegen ihn gefällt worden war. Das Gericht sah darin einen klaren Verstoß gegen die Verfahrensordnung. Denn: Das heimliche Aufzeichnen von Urteilsverkündungen ist in thailändischen Gerichtssälen strikt verboten.
Atchariya, der seit Jahren als Experte für Rechtsfälle gilt, hätte es besser wissen müssen, so das Gericht. Eine Bewährungsstrafe lehnten die Richter ab — trotz seiner prominenten Rolle als Opferanwalt. Gegen Kaution von 50.000 Baht (rund 1.300 Euro) ist Atchariya vorerst auf freiem Fuß, doch er will in Berufung gehen.
Politische Untertöne: Justiz als Waffe gegen Regierungskritiker?
Doch dieser Fall ist nur die Spitze des Eisbergs. In Thailand häufen sich seit Jahren Anklagen wegen „Contempt of Judicial Power“ — oft mit politischem Beigeschmack. Kritiker werfen der Justiz vor, das Gesetz gezielt einzusetzen, um regierungskritische Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Besonders während der Amtszeit von General Prayut Chan-o-cha, der 2014 durch einen Militärputsch an die Macht kam, wurden zahlreiche Anti-Regierungs-Aktivisten angeklagt. Sie hatten vor Gerichtsgebäuden protestiert und den Richtern vorgeworfen, parteiisch zu handeln. Ein 22-jähriger Aktivist wurde sogar zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil er ein Schild des Strafgerichts mit Graffiti besprüht hatte.
Hochkarätige Fälle: Von Akademikern bis zum Premier-Berater
Auch hochrangige Persönlichkeiten blieben nicht verschont. Sudsanguan Suthisorn, eine ehemalige Dozentin der Thammasat-Universität, erhielt 2016 eine einmonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Sie hatte zwei Jahre zuvor eine Protestaktion vor dem Zivilgericht angeführt, das die Demonstranten als „ungerecht“ bezeichneten. Das Oberste Gericht sah darin einen klaren Verstoß gegen die Autorität der Justiz.
Doch der wohl spektakulärste Fall ist der des Anwalts Pichit Chuenban. 2008 wurde er zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er versucht hatte, Gerichtsbeamte zu bestechen. Damals vertrat er den gestürzten Premierminister Thaksin Shinawatra. Doch die Vergangenheit holte Pichit ein: Als er 2023 zum Minister im Amt des Premierministers ernannt wurde, brach ein Sturm der Entrüstung los. Pichit trat nach weniger als einem Monat zurück — doch der Schaden war bereits angerichtet. Der damalige Premier Srettha Thavisin wurde schließlich vom Verfassungsgericht des Amtes enthoben, weil er mit Pichit einen Minister mit Vorstrafen ernannt hatte.
64 Angeklagte seit 2014: Ein Gesetz mit politischer Sprengkraft
Laut der thailändischen Menschenrechtsorganisation TLHR (Thai Lawyers for Human Rights) wurden seit 2014 mindestens 64 Personen in 35 Fällen wegen „Contempt of Judicial Power“ angeklagt. Viele von ihnen waren Anti-Regierungs-Aktivisten, die gegen die Verweigerung von Haftentlassungen für Mitstreiter protestierten.
Der Fall Atchariya ist kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Musters. In Thailand wird die Justiz immer wieder als politisches Instrument eingesetzt — und die Grenzen zwischen Recht und Macht verschwimmen zunehmend. Doch wie lange wird das Volk das noch hinnehmen?