44 Jahre politische Entwicklung in Thailand

Die bevorste­hen­den Par­la­mentswahlen 2023 find­en in mehrfach­er Hin­sicht in einem neuen poli­tis­chen Kli­ma statt. Dieser Artikel befasst sich mit einem poli­tis­chen Parteien­sys­tem, das sich im Laufe der Jahre verän­dert hat.

Wie viele von Ihnen vielle­icht schon bemerkt haben, ist bei den bevorste­hen­den Wahlen ein inten­siv­er Wet­tbe­werb zwis­chen den poli­tis­chen Parteien zu beobacht­en, die sich in ihren Wahlkampfre­den, Debat­ten, auf Social-Media-Plat­tfor­men und in Inter­views mit den Parteiführern eine Chance auf den Sieg aus­gerech­net haben. Der Haupt­grund dafür ist, dass Thai­lands poli­tis­ches Parteien­sys­tem nun in eine neue Ära mit mehreren Parteien, ide­ol­o­gis­chen Unter­schieden und poli­tis­chen Plat­tfor­men überge­ht, die sich von früheren poli­tis­chen Epochen unterscheidet.

Seit 1976 sind Wahlen zu einem Prozess gewor­den, der immer mehr an Bedeu­tung gewon­nen hat, wenn es darum geht, wer als näch­stes an die Macht kom­men soll. Die Wahlen in Thai­land lassen sich grob in zwei Epochen ein­teilen, näm­lich 1976 – 1996 und 1997 – 2019.

Zwis­chen 1976 und 1996 gab es in Thai­land ein Mehrparteien­sys­tem, das sich jedoch in Bezug auf poli­tis­che Ide­olo­gie und Poli­tik kaum unter­schied. Damals zogen viele Parteien mit jew­eils etwa 10 – 12 [Wahlkreis-]Mitgliedern ins Par­la­ment ein. Keine der Parteien errang einen Erdrutschsieg oder stellte die Mehrheit im Par­la­ment. Die stim­men­stärk­ste Partei erhielt in der Regel nur etwa 20 – 30 % der Par­la­mentssitze und war zahlen­mäßig nicht stärk­er als der Erst- und Zweit­platzierte. Manch­mal lagen sie Kopf an Kopf. Bei den Wahlen von 1996 beispiel­sweise errang die Neue Aspi­ra­tionspartei 125 Sitze im Par­la­ment und schlug damit die Demokratis­che Partei, die 123 Sitze errang. Nach poli­tis­ch­er Tra­di­tion erhielt die Partei mit den meis­ten Stim­men die erste Chance, die Regierung zu bilden, was dazu führte, dass Gen­er­al Chawalit Yongchaiyudh, der Führer der New Aspi­ra­tion Par­ty, Pre­mier­min­is­ter wurde.

An der Wahl beteiligten sich damals poli­tis­che Parteien wie die Demokratis­che Partei, die Chart Thai Partei, die Social Action Partei, die Peo­ple’s Pow­er Partei, die Chart Pat­tana Partei, die New Aspi­ra­tion Partei, die Palang Dhar­ma Partei und die Seri Dhar­ma Partei. Dies führte dazu, dass eine Koali­tion­sregierung gebildet wer­den musste.

Trotz der großen Anzahl poli­tis­ch­er Parteien würde man bei einem Ver­gle­ich ihrer Poli­tik auf­fal­l­ende Ähn­lichkeit­en in den Bere­ichen Wirtschaft, Bil­dung, nationale Sicher­heit und Entwick­lung der Leben­squal­ität fest­stellen. Das lag daran, dass die poli­tis­chen Parteien damals noch keine poli­tis­chen Insti­tu­tio­nen waren und es ihnen an Stärke fehlte. Sie entwick­el­ten keine eigene Poli­tik, um Wäh­ler anzuziehen. Die meis­ten Poli­tiken ähnel­ten sich, weil die meis­ten von ihnen den nationalen Plan für wirtschaftliche und soziale Entwick­lung und die Strate­gien ver­schieden­er Regierungs­be­hör­den kopierten und aus­liehen, so dass es den Schülern ähnelte, die Hausauf­gaben aus der­sel­ben Quelle kopierten. Außer­dem unter­schieden sich die poli­tis­chen Posi­tio­nen und Ide­olo­gien der einzel­nen Parteien kaum. Die poli­tis­chen Ein­stel­lun­gen von damals ließen sich wed­er als kon­ser­v­a­tiv noch als lib­er­al ein­stufen. (Bei den Wahlen nach dem bluti­gen Mai 1992 war von der Engelspartei” und der Teufelspartei” die Rede, aber das schien eher eine Strate­gie einiger

poli­tis­chen Parteien.)

Wenn die poli­tis­chen Parteien also nicht für ihre Poli­tik war­ben, wofür war­ben sie dann?

Sie war­ben für den Parteivor­sitzen­den, für die Attrak­tiv­ität der Kan­di­dat­en und ihre Fam­i­li­en­na­men sowie für die Unter­stützung, die den Men­schen vor Ort zuteil gewor­den war. Das lag daran, dass die meis­ten Poli­tik­er bei fast jed­er Wahl die Partei wech­sel­ten und die Wäh­ler für die Per­son stimmten und nicht für die Partei, unter der sie antraten.

1976 – 1996 war eine Ära des Anders und doch ähn­lich” im Mehrparteiensystem.

Nach der Finanzkrise und der neuen Ver­fas­sung von 1997 änderte sich alles. Zum ersten Mal wurde ein Wahlsys­tem mit zwei Wahlgän­gen sowie die Wahl von lan­desweit­en Parteilis­tenkan­di­dat­en einge­führt. Dies führte dazu, dass die poli­tis­chen Parteien an Stärke gewan­nen und began­nen, mit ihrer Poli­tik in den Wahlkampf zu ziehen. Die Zahl der Parteien, die Sitze im Par­la­ment gewan­nen, ging zurück. Bei den Wahlen 2001, 2005, 2007 und 2011 schafften 9, 4, 7 bzw. 11 poli­tis­che Parteien den Einzug ins Par­la­ment. Die erst- und zweit­stärk­sten Parteien gewan­nen viel mehr Par­la­mentssitze. Manch­mal gewan­nen sie sog­ar mehr als die Hälfte der Sitze im Parlament.

Von 1997 bis 2007, als sich die thailändis­che Poli­tik zu einem Zweiparteien­sys­tem entwick­elt hat­te, erlebte die thailändis­che Gesellschaft eben­falls eine Depo­lar­isierung. Straßen­proteste, poli­tis­che Gewalt und die bei­den Mil­itärin­ter­ven­tio­nen macht­en der thailändis­chen Demokratie zu schaf­fen. Die far­bige Poli­tik und die sich ständig ver­schär­fend­en ide­ol­o­gis­chen Kämpfe zwis­chen großen poli­tis­chen Bewe­gun­gen und Straßen­protesten, die völ­lig unter­schiedliche Ide­olo­gien und gegen­sät­zliche Auf­fas­sun­gen von Demokratie ver­trat­en, führten zu ein­er Wahlschlacht zwis­chen den Parteien, ins­beson­dere zwis­chen den bei­den großen Parteien. Es war nicht nur ein poli­tis­ch­er Wet­tbe­werb, son­dern er wurde unweiger­lich zu einem ide­ol­o­gis­chen Kampf. Die Dop­pel­moral in der Jus­tiz, die Ermor­dung von Men­schen während der Razz­ien, der Aktivis­mus der Jus­tiz, Putsche und mil­itärische Inter­ven­tio­nen usw. wur­den nun auf dem Wahlkampf­feld disku­tiert, abge­se­hen von dem reinen Wet­tbe­werb der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Bei den bevorste­hen­den Wahlen im Jahr 2023 ste­ht nun eine weit­ere entschei­dende Verän­derung an. Die thailändis­che Parteien­land­schaft tritt in eine weit­ere neue Ära ein. Im Gegen­satz zu den Jahren 1976 – 1996 und 1997 – 2019 hat sich das Feld in Thai­land jen­seits des großen Zweiparteien­sys­tems bewegt. Die poli­tis­che Polar­isierung hat zwar noch nicht nachge­lassen, aber die Parteien­land­schaft ist vielfältiger gewor­den. In der Ver­gan­gen­heit gab es eine Zwei-Frak­tio­nen-Zwei-Parteien-Poli­tik”. Jet­zt gibt es eine Zwei-Frak­tio­nen-Mehr-Parteien-Poli­tik”, bei der dieses Mal 6 große Parteien zur Wahl antreten. 80 – 90% der Stim­men und Sitze im Par­la­ment wer­den sich auf diese 6 Haupt­parteien konzen­tri­eren: Pheu Thai, Bhum­jaithai, Move For­ward, Demo­c­rat, Palang Pracharath, und Unit­ed Thai Nation. Weit­ere 5 oder 6 kleinere Parteien wer­den die Chance haben, mit ein­er beschei­de­nen Stim­men­zahl ins Repräsen­tan­ten­haus einzuziehen, wie Chart Thai Pat­tana, Chart Pat­tana Kla, Prachachat, Seri Ruam Thai und Thai Sang Thai usw.

Nichts­destotrotz kehrt die Mehrparteien­poli­tik bei den Wahlen 2023 nicht zum Mehrparteien­sys­tem der Ära 1976 – 1996 zurück, denn die heuti­gen poli­tis­chen Parteien in Thai­land haben unter­schiedliche Poli­tiken und Ide­olo­gien. Wenn wir die Poli­tik der einzel­nen Parteien ver­gle­ichen, wer­den wir große Unter­schiede in der Wirtschafts‑, Bildungs‑, Arbeits‑, Leben­squal­itäts- und Sicher­heit­spoli­tik fest­stellen. Nehmen wir zum Beispiel die Hal­tung der Parteien zur Wehrpflicht, so wer­den wir eine hitzige Debat­te und ein bre­ites Spek­trum an Ideen zu diesem The­ma sehen.

Was die Ide­olo­gie bet­rifft, so ist es offen­sichtlich, dass die thailändis­che Poli­tik nie wieder dieselbe sein wird. Die ide­ol­o­gis­che Debat­te ist sog­ar noch inten­siv­er als in den Jahren 1997 bis 2019, wobei die Medi­en und die Wäh­ler selb­st die poli­tis­chen Parteien in ein Spek­trum von Ide­olo­gien ein­teilen, das von der extremen Recht­en über die extreme Kon­ser­v­a­tive und die linke Mitte bis zu den Lib­er­aldemokrat­en und dem extrem pro­gres­siv­en Flügel reicht. Nation­al­is­mus und die Etiket­tierung von Men­schen als patri­o­tisch” oder ver­rä­ter­isch” sind zu einem noch nie dagewe­se­nen kon­tro­ver­sen The­ma im poli­tis­chen Wahlkampf gewor­den. Ein The­ma, das in der Geschichte der thailändis­chen Wahlen noch nie auf der Tage­sor­d­nung poli­tis­ch­er Debat­ten stand, ist der Para­graf 112 des Strafge­set­zbuch­es (Majestäts­belei­di­gung), der in jed­er Partei­de­bat­te zur Sprache kommt und nach dem gefragt wird. Darüber hin­aus ist es unver­mei­dlich, dass die Kan­di­dat­en der ver­schiede­nen Parteien im Wahlkampf mit Men­schen kon­fron­tiert wer­den, die unter­schiedliche Ansicht­en zu diesem The­ma haben.

Auf­grund des Charak­ters dieses Mehrparteien­sys­tems, in dem es ver­schiedene poli­tis­che und ide­ol­o­gis­che Schat­tierun­gen gibt, ist es unver­mei­dlich, dass es zu einem hitzi­gen Kampf zwis­chen Parteien kommt, die entwed­er ver­schiede­nen Ide­olo­gien oder ver­schiede­nen Schat­tierun­gen der­sel­ben Ide­olo­gie ange­hören. Denn im Sys­tem der ver­schiede­nen und vielfälti­gen” poli­tis­chen Parteien betra­cht­en sich alle Parteien gegen­seit­ig als ihre Geg­n­er im Kampf um die Wäh­ler­stim­men. Das thailändis­che Volk mag mit diesem neuen Kli­ma nicht ver­traut sein.

In Wirk­lichkeit kehren wir aber wed­er zum Zweiparteien­sys­tem noch zum Mehrparteien­sys­tem zurück, in dem es keine ide­ol­o­gis­che Vielfalt gibt. Das Pos­i­tive an diesem neuen Kli­ma ist, dass die Wäh­ler mehr Auswahl haben. Den Men­schen wird über­all im poli­tis­chen und poli­tis­chen Spek­trum die Wahl ange­boten, die ihren Präferen­zen entspricht, und das ist sicher­lich eine pos­i­tive Entwick­lung für die thailändis­che Demokratie.

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